Mittwoch, 9. November 2011

Quo vadis Europa?

Welchen Weg wird Europa gehen? Wohin muss es sich entwickeln, wenn es Bestand haben soll? Gefährdet die derzeitige Uneinigkeit im Politikbetrieb und die Renitenz mancher Völker gar den Frieden auf dem Alten Kontinent?

Moment mal!

Wer fragt sowas, und warum? Sind die Einwohner Europas nun in Angst, oder nur ihre obersten Vertreter? Und welches Europa ist hier überhaupt gemeint?

Halten wir mal fest, dass es nicht um Europa geht, sondern nur um 26 der 46 Staaten des Kontinents (plus Zypern, Südhälfte). Und diese 27 Staaten (leider nur ihre Lenker) sollen sich jetzt entscheiden müssen, wie es mit ihrem "Friedensprojekt" weitergehen soll, denn sonst wird ja alles total schlimm. Man muss jetzt handeln, Weichen stellen, wissen was auf dem Spiel steht, - denn sonst ... uiuiui.

Aber hallo! Nur weil 27 Staaten sich in geografischer Nähe zueinander befinden, müssen sie sich jetzt einig werden, ob sie ihre Zusammenarbeit in Richtung Bundesstaat oder Transferunion ausweiten? Mehr von dem, was jetzt schon nicht so recht funktioniert? Warum sollte mehr Union eigentlich Abhilfe schaffen bei den Problemen die die jetzige Union erst hervorgebracht hat? Wäre hier nicht sogar weniger mehr?

Wenn man sich die Geschichte der europäischen Einigung ansieht, wird man feststellen, dass sie zumindest in den letzten Jahren alles andere als organisch war. Da war nichts mehr zwingend, naheliegend oder logisch. Jedenfalls für die Bevölkerungen nicht. Die wurden ja tunlichst auch rausgehalten aus der EU-Erweiterung. Entweder gar nicht befragt, oder befragt bis sie zu irgendeinem Gesamtpaket ein leises Ja hören ließen. Von selbst wären sie nie darauf gekommen, dass die Union immer größer und mächtiger werden müsste.

Doch wo kommts her, wo waren die Anfänge?

Wenn man sich mal die Weltkarte anguckt und mit einer Stadt vergleicht, dann ist Europa dort maximal ein kleines Stadtviertel. Eigentlich ist Kerneuropa eher ein Straßenzug in einem Stadtviertel. Okay, es ist eine alte, ehrwürdige und geschichtsträchtige Straße mit prächtigen Villen und schattigen Parks, wo einen jede Ecke an Historisches erinnert. Vielleicht ist Kerneuropa eine Art Schlossallee, gelegen in einem historischen Viertel. Altes Geld, alte Steine, Staub, Blattgold und mittlerweile alte Leute.

Die Geschichte dieser Straße ist aber eine blutige. Nahezu jede Villa beherbergte einmal Großmächte, oft gleichzeitig und gegeneinander. So wurde die Straße oft von Schlachten verwüstet und wieder aufgebaut. Man okkupierte das Nachbarhaus, versetzte Grenzsteine und verleibte sich fremdes Eigentum ein. Aber man heiratete auch untereinander, ging Allianzen ein und ließ die eigenen Kinder für fremder Häuser Macht marschieren.

Nach den letzten zwei Schlachten, die die halbe Stadt entzündet hatten, kam man überein, dass es so nicht weitergehen könnte. Man solle sich auf seine Gemeinsamkeiten besinnen und zusammenstehen gegen den mächtigen Feind im Osten. Und ... das Alte Europa prosperierte, wurde im Inneren friedlich, nach Außen hin reich und wieder eine feine Adresse in der Stadt.
Die Montanunion, die EWG, die Europäische Gemeinschaft - ein wirtschaftliche Erfolgsgeschichte in einer Welt der Machtblöcke, in ihrer Expansion nur dort hart abgebremst wo im Osten der Gegner stand.

Mit dem Fall der Sowjetunion entfiel aber auch diese Bremse und die Führer der Europäischen Union kannten nun kaum Grenzen mehr. Sie hatten während des kalten Krieges verinnerlicht, dass die Integration voranschreiten soll. Dass mehr Europa per se gut ist, und dass jeder Häuptling nur maximal ein, zwei Legislaturperioden Zeit hat um der europäischen Geschichte ein eigenes "Erfolgskapitel" hinzuzufügen.

Die Völker wurden schon lange nicht mehr gehört, denn der Prozess war alternativlos. Viele Treffen, Gipfel und dicke Vertragswerke waren nötig, viel Arbeit und Verhandlungsgeschick ... aber es wurden doch so schöne Fotos! Mit immer mehr Regierungschefs!

Und da setzt die Kritik an. Die Politik hat irgendwann vergessen die Herzen ihrer Völker mitzunehmen. Sie war und ist gefangen in einer Interventionsspirale, gefangen darin wie eine sozialistische Planwirtschaft oder wie jede Bürokratie. Es gibt kein Innehalten, Zweifeln oder gar einen versichernden Schritt zurück. Die Antwort auf sichtliche Probleme war und ist ein ständiges Mehr an Intervention. Handlungsfähig bleiben heißt das mittlerweile, wenn die Führer sich und den Weg betrachten, und dabei fragen WIE?

Das Volk dagegen fragt sich stattdessen WARUM? Natürlich will keiner der Regenten der erste sein der sagt: Ey Leute, wir schleppen hier langsam zuviel Gewicht den Berg lang hoch, und die neuen Mitkletterer in unserer Seilschaft sind auch nicht gerade eine große Hilfe. Lasst uns mal Absetzen, durchschnaufen und überlegen wie wir zurück zur letzten sicheren Position zurückkommen. Das Wetter wird schlechter, die Fußkranken mehr, und die bekannten Asthmatiker sind bisher auch nicht genesen. Wozu also weiterklettern zum nächsten Plateau von dem wir noch nicht einmal wissen wo es liegt?

Die Völker wollen das wissen, denn sie tragen das Gewicht, die Führer nur die Verantwortung.

Die Herzen der Völker wurden nicht mitgenommen? Wie das, wo doch die europäische Integration eine Frage des "Friedens in Europa" ist? Frieden ist doch das, was dem Volk am wichtigsten ist und viel zu oft in der Geschichte von gewissenlosen Führern aufs Spiel gesetzt wurde.

Vorab, ich halte das Inspielbringen der Frage des europäischen Friedens für eine Lüge, die lediglich das angeblich alternativlose Weiter so! der Regenten moralisch unterfüttern soll. Im Gegenteil, wenn die Seilschaft sich weiter blind und ohne Sicherung vorwärtstastet werden die Spannungen in der Gruppe stark genug um sich destruktiv zu entladen. Wir haben die verbalen Attacken gegen vermeintliche "Faulpelze", "Betrüger", "Kolonisatoren" und "Unterdrücker" ja schon heute. In Athen brennen deutsche Fahnen schon, wann brennt die erste Botschaft? Oder müssen die schon extra geschützt werden?

Zurück zu unserer Reisegruppe. Die Führer der Seilschaft kommunizieren auf der Augenhöhe einer privilegierten Kaste. Sie beschäftigen Dolmetscher, Beraterstäbe, Bodyguards und Flugbereitschaft. Für sie ist halt der Nikolas "die Franzosen", die Angela "die Deutschen" und der Silvio ist (noch) Italien. Wer dieser Augenhöhe nicht entspricht und dem Volk das Wort redet, ist ein "gefährlicher Populist" und somit nicht satisfaktionsfähig.

Die Völker als Lastenträger dagegen reden nicht so viel miteinander. Natürlich und glücklicherweise mehr als in der Vergangenheit. Man besucht sich, man kennt sich ein wenig und ja, man mag sich sogar. Also das was ein friedliches Miteinander bedingt, der Respekt und die Akzeptanz unter Nachbarn, ist ohne Zweifel vorhanden.
Aber will man auch, um im Beispiel Schlossallee und Nebenstraßen zu bleiben, alle Hecken auf ein Standardmaß stutzen, alle Zäune umreißen und alle Betriebskosten gemeinsam tragen? Schlimmer noch, will man wirklich alle Häuser in der gleichen Farbe anstreichen und auch noch die Klingelschilder abmontieren lassen, auf das eine gemeinsame Verwaltung für alle sprechen und das "gemeinsame Vermögen" nach Gutdünken umverteilen kann?

Ich glaube nicht. So eine Zusammenschluss muss im Streit enden. Nichtmal in einer selbstgewählten Gemeinschaft wie einer Ehe muss es Usus sein, dass man ein gemeinsames Konto führt. Und auch dort geht man schon dazu über, vor der Verbindung einen Ehevertrag zu unterzeichnen, in dem die Konditionen geregelt sind sollte es doch nicht über die Zeit halten. Selbst in der intimsten Zweierverbindung hält man sich also durchaus die Optionen offen, aber das haben die Euroführer in ihrer Geschichtsbeseeltheit einfach mal vergessen.

Und dann darf man die Frage der grundsätzlichen Völkerkompatibilität auch nicht außer Acht lassen. Sind wir, auch wenn wir nähere und entferntere Nachbarn sind, überhaupt dazu bereit uns in einer Zweckgemeinschaft zusammenleimen zu lassen? Sind wir uns hinreichend ähnlich, dass wir unseren Egoismus in einem unionierten Europastaat zurückstecken würden? Aufgehen in einem politischen Gebilde, welches eine bisher undefinierte Idee zusammenhalten soll?

Welche Idee soll das sein? Welcher Zweck uns einigen? Die Idee der friedlichen Koexistenz ist verwirklicht. Die Völker sind älter und kriegsmüde geworden. Könnte sich jemand vorstellen, dass es unter den europäischen Staaten noch zu mehr als rhetorischem Säbelrasseln kommen würde? Wo sind die stehenden Heere denen man noch einreden könnte, dass unmittelbare Gefahr vom Nachbarn ausgeht? Wo ist das Aggressionspotenzial in den Bevölkerungen, das skrupellose nationale Einpeitscher noch kanalisieren könnten? Keine Gefahr - nirgends.

Aber was ist der Zweck der Gemeinschaft? Liebe ist es ja nicht, also was soll der engere Zusammenschluss bringen? Eine politische Klammer um Völker die verschiedene Sprachen sprechen, also nicht einmal die Vertreter des Nachbarn ohne weiteres verstehen können? Nationen welche eine jeweils eigene Geschichte pflegen, die sich großteils um Kämpfe gegen die Nachbarn dreht? Völker die zwar eine Art gemeinsamer Kultur aufweisen, deren Mentalitäten aber äußerst heterogen sind?

Man hört es manchmal raus, wenn man das Friedensgeblubber der Europapriester ausblendet. Sie sagen dann Sachen wie, dass man sonst keine Chance gegen 1,2 Milliarden Chinesen, oder gegen 1 Milliarde Inder hätte. Dass die europäischen Einzelstaaten sonst keine hörbare Stimme im Konzert der Weltmächte hätten. Man würde sonst untergebuttert, übersehen, nicht wahrgenommen - abgehängt. Nur die Größe schützt uns vor drohender Bedeutungslosigkeit.

Aha? Der Bollwerk-Reflex ist also noch intakt, man möchte einen starken Bund gegen etwas, nicht für etwas. Das hatte Winnetou, der Häuptling der Apachen auch schon festgestellt, als er seinem weißen Bruder zeigte, dass ein Bündel Pfeile stärker ist als ein einzelner. Die Stämme sind schwach, aber zusammen sind wir stark!

Die Euroführer haben richtig erkannt, dass die ehemals förderliche Gemeinschaft zu einem zerstrittenen Haufen degeneriert ist, der alles andere als einen starken Eindruck macht. Nur liegt das gerade nicht an mangelnder Größe, sondern am dekadenlang propagierten "Mehr davon!". Nicht das Zuwenig an Union und Zentralismus schwächt die Gemeinschaft, sondern das Zuviel an unterschiedlichen Interessen. Und diese Interessen kann auch ein europäischer Zentralstaat mit Brüsseler Lenkungsbürokratie nicht nivellieren, denn diese bleiben bestehen und würden sogar noch schmerzlicher sichtbar und verschärften sich.

Eine Gemeinschaft von Schwachen - wobei dies wahrlich nicht für alle Teilnehmer zutrifft - kann eben nicht ohne einen Gegner zusammenhalten und dabei ständig innere Zugeständnisse machen, sowie laufend die Egoismen der Mitglieder zurückdrängen. Daher wird dieser ökonomisch-politische Gegner beschworen.

Nur, dieser Gegner ist ein Popanz. Ein Handelspartner kann halt kein ökonomischer Gegner sein. Ein Konkurrent ja, aber dem begegnet man nicht mit einer Ausweitung der eigenen Bürokratie und der Inkaufnahme zunehmender innergemeinschaftlicher Spannungen. Vor allem begegnet man ihm nicht, indem man die wirtschaftlich stärksten der Schlossallee-Bewohner permanent schwächt und für die Malaisen der Nachbarn zur Kasse bittet.

Und hey ... was die weltpolitische Bedeutung angeht, warum strebt ihr die überhaupt an? Fürs Ego? Was bringt euch die, außer zusätzlichen Überweisungen in fremde Kassen? Welche Interessen habt ihr denn so weltpolitisch, außer das ihr weiter überall mitreden wollt ohne wirklich etwas entscheiden zu können? Mehr Fotos mit noch mehr Staatschefs, noch mehr Dolmetscher, Beraterstäbe, Bodyguards und Flugbereitschaft?

Ich bin für eine europaweite Volksabstimmung in der gefragt werden soll, ob die Lastenträger für ein Weiter so! bereit sind, oder ob sie nicht lieber wieder ein paar Schritte zurück gehen wollen. Auch und gerade deswegen, weil ich weiter in guter Nachbarschaft leben möchte.


Hier zur Serie dazu in Zettels Raum
Hier und hier Politplatschquatsch zum gleichen Thema

4 Kommentare:

  1. Es geht nur vordergründig um ein "Einiges Europa", es geht um viel größeres. Man lese Coudenhove-Kalergi's "Praktischer Idealismus", informiere sich über die "Paneuropabewegung", und geniesse es.

    Leider ist das keine Verschwörungstheorie.

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  2. hallo climero,

    genau so sieht es aus. glückwunsch, gut geschrieben, klug argumentiert.

    warte mal noch eine woche, dann steht das genau so in den qualitätsmedien

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  3. Wunderbar geschrieben. Epic. Danke.

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  4. Dem stimme ich voll und ganz zu. Solch eine zeitgleich in allen europäischen Ländern stattfindende Volksabstimmung wäre ein geradezu verbindendes Ereignis. So und nicht anders stelle ich mir den Beginn für einen Neustart vor.

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